Wie auch schon in der Serie „Pantheon“ beschäftigt sich Jan Bauer in seinem Zyklus „Glyptothek“ mit der Antike. Diese ist seit der Renaissance einer der zentralen Referenzpunkte für die europäische Kunst, mit dem sich unzählige Künstler immer wieder auf verschiedenste Weise auseinandersetzen. Die Beschäftigung mit den antiken Vorbildern war lange Zeit selbstverständlicher Bestandteil einer jeden Künstlerbiografie. Es war ein erstrebenswertes Ziel, persönlich zu den antiken Städten zu reisen, die dortigen Eindrücke weiter zu verarbeiten und sich dem allgemeinen Streben nach dem Idol der einstigen Größe anzuschließen.
In diese Tradition reiht sich auch die Serie „Glyptothek“ ein. Jan Bauer erweitert damit seine Auseinandersetzung mit der Antike um ein weiteres Thema: Die griechisch-römische Plastik und – damit verbunden – das antike Menschenbild.
So nimmt er den Betrachter mit auf einen Rundgang durch die Münchener Glyptothek und zeigt eine persönliche Auswahl an Einzelperspektiven und neuen Seh-Erlebnissen. Bauer erlaubt seinen Rezipienten den Blick durch die Augen des Künstlers, der durch eine Ausstellung wandert und den Fokus auf bestimmte ästhetische Details richtet, die anderen Besuchern zunächst vielleicht als unwichtig erscheinen. Es ist ein fokussierender Blick, mit dem Bauer vor allem ein Ziel verfolgt: Dem dargestellten Gegenstand möglichst gerecht zu werden. Dabei geht es ihm immer auch um Erkenntnisgewinn, um eine Art Forschertätigkeit – jedoch nicht mit einer wissenschaftlichen, sondern einer künstlerischen Herangehensweise.
Beim Betrachten der Bilder wird auch das große Interesse deutlich, das Bauer am Material seiner dargestellten Gegenstände hat: Ob es, wie hier in der Serie „Glyptothek“, der feine Marmor einer Statue ist oder das an manchen Stellen brüchige und nachträglich ausgebesserte Mauerwerk des „Pantheon“ – der abtastende Blick, mit dem den Dingen begegnet wird zeigt sich in jeder der Darstellungen mit allen ihren Details.
Die tausendjährige lange Geschichte einer jeden Statue hat sich in das Material eingegraben und wird gerade durch Risse und fehlende Teile deutlich. Genau diese Geschichtlichkeit ist es, die Jan Bauer interessiert. Der perfekte Faltenwurf wird mit dem Verfall konfrontiert, den der Zahn der Zeit unweigerlich auch in dieses edelste Material eingegraben hat.
Wer sich mit antiken Statuen beschäftigt weiß, dass die lange angenommene ideale Reinheit, die durch das weiße Marmor suggeriert wird, lediglich ein Mythos späterer Zeiten ist. Die Statuen wurden damals mit bunten Farben bemalt und standen alles andere als schlicht vor dem Betrachter, wie es Christian Wolters in den 60er Jahren in Zusammenarbeit mit der Münchener Glyptothek durch Versuche mit UV-Fluoreszenz gezeigt hat.
Es geht Bauer in seinen Arbeiten nicht nur um ein Nachspüren des Schaffensprozesses der antiken Bildhauer, sondern auch um die jahrhundertelange Historie. Um diesem Aspekt gerecht zu werden, setzt Bauer auf Akkuratesse in der Darstellung und tritt so in einen ehrfurchtsvollen Dialog mit dem damaligen Künstler und der Zeit, die im Dargestellten immer noch spürbar ist.
Das Fehlende, die Brüche und scheinbaren Störungen werden in den Bildern also nicht ausgespart oder beschönigt, sondern gerade als besonders wichtig und darstellenswert in den Mittelpunkt gerückt. So sind das abbröckelnde Ende eines Kleidungsstücks, der Torso ohne Kopf oder die Figur ohne Arme nicht nur ein memento mori und ein Zeichen der Vergänglichkeit, sondern gleichzeitig ein Füllhorn an ästhetischen Eindrücken, die sich erst durch den Verfall zeigen. Das Fragile, Vulnerable, das gerade durch seine scheinbare Imperfektion seine besondere Ästhetik entfaltet, macht Bauer durch seine Bearbeitung sichtbar. Die Leerstellen, die dadurch entstehen, eröffnen neue Räume und völlig neue Sichtweisen auf etwas eigentlich Vertrautes – ohne die Notwendigkeit, das Fehlende im Kopf zu ergänzen. Die Brüche und Verletzungen können dabei verschiedene Empfindungen hervorrufen.
Durch das penible Nachempfinden jedes einzelnen Faltenwurfes im Marmor und auch jedes Risses im Material wird die damalige Arbeit nicht nur gewürdigt, sondern quasi ein zweites Mal auf einen Sockel gestellt: Indem Bauer die Statue abbildet und künstlerisch weiterverarbeitet, scheint nicht nur die Skulptur, sondern auch die damalige Machart und der Entstehungsprozess wie zu neuem Leben erweckt.
Obwohl es sich schon allein durch die Auswahl ungewöhnlicher Ausschnitte um eine subjektive Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Vorbild handelt, spielt Jan Bauer in „Glyptothek“ wie auch schon in „Pantheon“ gerade durch die Behauptung einer „dokumentarischen Neutralität“ mit dem Kontrast zwischen Subjektivität und Objektivität. Was ihn nicht nur in seinen Antike-Zyklen, sondern auch schon in früheren Arbeiten umtreibt, ist das Genre der wissenschaftlichen Zeichnung. So mutet das Informationsfeld, das jeder der Zeichnungen hinzugefügt wurde auf den ersten Blick sehr objektiv und wissenschaftlich an: Hier wird der Betrachter über Sujet, Ort, Datum und den Namen des Künstlers in Kenntnis gesetzt. Manchmal wird dem Betrachter erst dadurch klar, um welche Statue es sich in der Darstellung handelt.
Die Frage, wie man dem Dargestellten am besten gerecht werden kann, steht dabei immer im Raum. Das genaue Erfassen jedes Details und die kleinteilige Abbildung wirken auf den ersten Blick zwar wissenschaftlich-objektiv, sind aber bei genauerer Überlegung weit entfernt von schlichter Mimesis oder bloßer Nachahmung. Gerade dadurch, dass Bauer ungewöhnliche Blickwinkel und Ausschnitte für sein Werk wählt, wird die Behauptung des objektiv-Dokumentarischen offensichtlich Lügen gestraft. Ein interessantes Spannungsfeld wird eröffnet, das den Betrachter unweigerlich zu der philosophische Frage nach Subjektivität und Objektivität führt und insbesondere mit der Phänomenologie der visuellen Wahrnehmung sowie der Zeitlichkeit spielt und diese künstlerisch verarbeitet.
Text: Christine Roder und Jan Bauer
As in the series "Pantheon", Jan Bauer deals with antiquity in his cycle "Glyptothek". Since the Renaissance, this has been one of the central points of reference for European art, with which countless artists have repeatedly dealt in the most diverse ways. For a long time, the preoccupation with ancient models was a natural part of every artist's biography. It was a desirable goal to personally travel to the ancient cities, to further process the impressions there and to join the general striving for the idol of former greatness.
The "Glyptothek" series also fits into this tradition. Jan Bauer thus expands his examination of antiquity to include another theme: Greco-Roman sculpture and - connected with it - the ancient image of man.
He thus takes the viewer on a tour of the Munich Glyptothek and presents a personal selection of individual perspectives and new visual experiences. Bauer allows his recipients to look through the artist's eyes as he wanders through an exhibition, focusing on certain aesthetic details that might initially seem unimportant to other visitors. It is a focusing gaze with which Bauer pursues one goal above all: To do as much justice as possible to the object depicted. In doing so, he is always concerned with gaining knowledge, with a kind of researcher's activity - not, however, with a scientific approach, but an artistic one.
When looking at the pictures, the great interest Bauer has in the material of the objects he depicts also becomes clear: whether it is the fine marble of a statue, as here in the series "Glyptothek", or the masonry of the "Pantheon", which in some places is brittle and has been subsequently repaired - the scanning gaze with which the things are encountered becomes apparent in each of the depictions with all their details.
The thousand-year long history of each statue has dug itself into the material and becomes clear precisely through cracks and missing parts. It is precisely this historicity that interests Jan Bauer. The perfect drape is confronted with the decay that the ravages of time have inevitably dug into even this noblest of materials.
Anyone who has studied ancient statues knows that the long assumed ideal purity suggested by white marble is merely a myth of later times. At that time, the statues were painted with bright colors and stood anything but plain before the viewer, as Christian Wolters demonstrated in the 1960s in collaboration with the Munich Glyptothek through experiments with UV fluorescence.
Bauer's work is not only about tracing the creative process of the ancient sculptors, but also about centuries of history. In order to do justice to this aspect, Bauer focuses on accuracy in representation and thus enters into a reverent dialogue with the artist of the time and the time that can still be felt in what is depicted.
The missing, the breaks and apparent disturbances are thus not left out or glossed over in the pictures, but rather brought into focus as particularly important and worthy of depiction. Thus the crumbling end of a garment, the torso without a head, or the figure without arms are not only a memento mori and a sign of transience, but at the same time a cornucopia of aesthetic impressions that only reveal themselves through decay. Bauer makes the fragile, the vulnerable, which unfolds its special aesthetic precisely through its apparent imperfection, visible through his treatment. The voids that are thus created open up new spaces and completely new perspectives on something that is actually familiar - without the need to fill in what is missing in the mind. The fractures and injuries can thereby evoke various sensations.
By meticulously recreating every single wrinkle in the marble and even every crack in the material, the work of the time is not only appreciated, but virtually placed on a pedestal a second time: By depicting the statue and processing it artistically, Bauer seems to have brought to life not only the sculpture, but also the way it was made and the process by which it was created.
Although the selection of unusual details alone makes it a subjective examination of the respective model, in "Glyptothek" as in "Pantheon" Jan Bauer plays with the contrast between subjectivity and objectivity precisely by asserting a "documentary neutrality. What drives him, not only in his cycles of antiquity but also in earlier works, is the genre of scientific drawing. Thus, the information field added to each of the drawings seems at first glance very objective and scientific: Here the viewer is informed about the subject, place, date and the name of the artist. Sometimes it is only through this that the viewer realizes which statue is involved in the depiction.
The question of how best to do justice to the sitter is always in the room. At first glance, the precise capture of every detail and the small-scale depiction may seem scientific and objective, but on closer reflection they are far removed from simple mimesis or mere imitation. Precisely because Bauer chooses unusual angles and sections for his work, the claim of the objective-documentary is obviously given the lie. An interesting field of tension is opened up that inevitably leads the viewer to the philosophical question of subjectivity and objectivity and, in particular, plays with and artistically processes the phenomenology of visual perception as well as temporality.
Text: Christine Roder and Jan Bauer